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In der Schweiz «erleben wir eine Entkoppelung von CO2-Emissionen und Wachstum»

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch blickt auf ein Jahrzehnt voller wirtschaftlicher Herausforderungen an der Spitze des Seco zurück, das sie diesen Sommer verlassen wird. Interview.

In der Schweiz «erleben wir eine Entkoppelung von CO2-Emissionen und Wachstum»
16 mars 2022, 6h16
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Justine Fleury und Frédéric Lelièvre


Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch wird diesen Sommer die Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) abgeben, eine Position, die sie seit dem 1. April 2011 innehatte. Sie war auch Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandelsorganisation (WTO) und blickt auf ein Jahrzehnt voller wirtschaftlicher Herausforderungen zurück.

Welche Veränderungen in der Struktur der Schweizer Wirtschaft haben Sie in den elf Jahren als Leiterin des SECO am stärksten beobachtet?  

Ich begann zur gleichen Zeit wie die Krise des starken Frankens. Er erreichte im August 2011 die Parität mit dem Euro, so dass man sich Sorgen machte, ob dies einen Teil der Industrie aufgrund von Exportschwierigkeiten gefährden würde. Wenn man das gesamte Jahrzehnt betrachtet, gab es nur einen sehr geringen Rückgang der Beschäftigungsquote im Industriesektor, von 27% im Jahr 2010 auf 25% im Jahr 2019. Der Anteil der Industrie am BIP blieb mit 26% unverändert.

Ich gehöre zu denjenigen, die davon überzeugt sind, dass ein Land auch eine starke Industrie braucht, und ich bin sehr zufrieden, dass wir es in der Schweiz geschafft haben, diese zu erhalten. Es ist eher innerhalb dieser Industriestruktur, wo die größten Veränderungen stattgefunden haben. Die pharmazeutische und chemische Industrie hat ihren Anteil am BIP kontinuierlich gesteigert (ihr Anteil an den Exporten ist von 39% im Jahr 2011 auf 50% im Jahr 2019 gestiegen).

Inwiefern ist unsere Wirtschaft im Vergleich zu 2011 stärker bzw. schwächer geworden? Die Schweizer Wirtschaft hat sich in den letzten Krisen als widerstandsfähig erwiesen, was unter anderem auf ihre breite Diversifizierung zurückzuführen ist. Die Pharmaindustrie ist eine unserer Stärken, da sie sich als sehr widerstandsfähig gegenüber Konjunkturzyklen erwiesen hat, auch wenn aufgrund ihres hohen Anteils an der Industrie auch von Risiken gesprochen wird.

Innerhalb von zehn Jahren sind die Beziehungen der Schweiz zu ihrem wichtigsten Partner, der Europäischen Union (EU), sehr unsicher geworden. Dies ist eine weitere Schwäche...

Ich denke, dass diese Situation der Unsicherheit über die EU hinausgeht. Die Herausforderungen, die sich aus der Weltwirtschaft ergeben, sind heute wahrscheinlich größer als noch vor zehn Jahren. Damals war diese protektionistische Tendenz weniger stark ausgeprägt. Während der Pandemie bezog sich fast ein Drittel aller Beschränkungen auf den Export. Wir haben immer versucht, diese Beschränkungen zu bekämpfen, wo immer es uns in der WTO oder in Freihandelsabkommen möglich war. Diese Schranken treffen die Schweiz besonders hart, da sie stark in die Weltwirtschaft integriert ist. Das Umfeld hat sich im letzten Jahrzehnt verändert, und das ist nicht nur auf den Protektionismus während der Präsidentschaft von Herrn Trump zurückzuführen. 

Auch die Handelssituation mit China hat sich angespannt...

Das stimmt, auch wenn das Freihandelsabkommen gut funktioniert. Wir würden es im Übrigen gerne verbessern. Aber es gibt auch Fragen, die mit unseren Werten zu tun haben, zum Beispiel mit der Situation in Xinjiang. Es geht nicht nur um Wirtschaftsbeziehungen.

Zu den weiteren Veränderungen, die Sie erlebt haben, gehört die Digitalisierung der Schweizer Wirtschaft, die sich durch die Pandemie beschleunigt hat. Dies lässt sich an der Verbreitung von Telearbeit erkennen. Was wird Ihrer Meinung nach, die nachhaltigste Veränderung sein?  

Die Pandemie hat uns einerseits gezeigt, dass die Schweiz im internationalen Vergleich gut dasteht, andererseits aber auch, dass wir noch einige Lücken haben, die es zu schliessen gilt. Das Tempo, in dem wir uns digitalisieren, sollte etwas höher sein.

Auch auf internationaler Ebene sollte eine Regelung für den elektronischen Handel geschaffen werden. Wir sind dabei, in der WTO Regeln auszuhandeln, wie wir sie für den Handel mit Waren und Dienstleistungen kennen. Das dauert sehr lange, obwohl der Sektor schnell wächst. 

Der Energiewandel ist ein weiteres großes Thema. Wie lässt sich das Ausmaß der Anstrengungen ermessen, die unternommen werden müssen, um bis 2050 eine Netto-Null-Emission zu erreichen?

Für die Energiepolitik ist das Eidgenössische Umweltdepartement zuständig, aber das SECO bewertet die Vorschläge unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wir schätzen die Kosten für diese Transformation bis 2050 auf 73 Milliarden Franken, einschließlich der Renovierung von Gebäuden, der Elektrifizierung des Verkehrs und der Industrie oder der Stromerzeugung. Dies bedeutet Kosten für Unternehmen und Haushalte, und unnötige Kosten werden zu vermeiden sein. Die Schweiz verfügt jedoch über gute Voraussetzungen für diese Transformation. Insbesondere erfolgt ihre Stromversorgung nahezu CO2-frei. Zudem haben wir eine Entkoppelung der Treibhausgasemissionen von der wirtschaftlichen Entwicklung erlebt.

Der Handelssektor entwickelt sich in die richtige Richtung und zeigt mehr Transparenz

Zu den Energieträgern gehört auch das Erdöl, von dem weltweit ein großer Teil in Zug oder Genf gehandelt wird. Wie beurteilen Sie diesen Rohstoffhandel in der Schweiz? 

Das ist ein Thema, das mich seit Beginn meiner Leitung des SECO begleitet hat. Ich erinnere mich, dass es vorher keinen institutionalisierten Dialog mit diesen Unternehmen gab, auch nicht mit den NGOs, die viel Kritik an ihnen übten. Wir haben dann in erster Linie dem Bundesrat einen Rohstoffbericht vorgeschlagen und vor allem Unternehmen, NGOs, Kantone wie Zug, Genf und auch das im Goldhandel sehr aktive Tessin zu Rundtischgesprächen über die aktuell drängendsten Themen eingeladen. Ich bin ziemlich stolz darauf, dass es uns gelungen ist, diesen Kontakt zwischen diesen verschiedenen Parteien herzustellen. Das war extrem wichtig für die Entwicklung der Unternehmen, aber auch für die NGOs, die gesehen haben, dass sich in diesem Sektor etwas bewegt. Er entwickelt sich in die richtige Richtung und zeigt mehr Transparenz. 

Haben Sie eine Botschaft an diese Händler fossiler Brennstoffe über ihre Zukunft in einer kohlenstofffreien Welt?

Ich habe keiner Branche eine Botschaft zu geben. Die Schweiz hat keine Industriepolitik. Es ist unsere Aufgabe, die besten Rahmenbedingungen zu schaffen, und die Unternehmen müssen entscheiden, was sie zu tun haben.

Apropos Rahmenbedingungen: Viele Abstimmungsvorlagen richten sich gegen die freie Marktwirtschaft. Dies zeigte sich bei der Konzernverantwortungsinitiative, die knapp abgelehnt wurde, oder beim Freihandelsabkommen mit Indonesien, das mit einer knappen Mehrheit angenommen wurde. Sehen Sie das auch so?

Ja. Bei der Abstimmung über verantwortungsvolle multinationale Unternehmen wussten wir, dass es knapp werden würde. Dass das Freihandelsabkommen mit Indonesien so knapp durchkam, hat mich hingegen extrem beeindruckt. Einer der Gründe war die Fokussierung der Debatte auf Palmöl, obwohl dies nur einen winzigen Teil unseres Handels mit diesem Land ausmacht. Unsere Aufgabe ist es, besser zu erklären, was Handelsabkommen bringen, und wir haben noch viel zu tun, was die Transparenz angeht.